: Der Boss von Spiez
Helmut Rahn, lebenslustiger Urheber des wichtigsten Tores der deutschen Fußballgeschichte, ist gestern im Alter von 73 Jahren gestorben
von MATTI LIESKE
Als klügster Winkelzug Sepp Herbergers bei der Fußballweltmeisterschaft 1954 gilt gemeinhin die Entsendung eines Reserveteams zum Vorrundenspiel gegen Ungarn, das prompt mit 3:8 verloren ging. Damit sei das Wunderteam der Magyaren in Sicherheit gewiegt worden, so dass die Deutschen im Endspiel von Bern dann ihren sensationellen 3:2-Sieg aus dem Hut zaubern konnten. Eine hübsche Legende, aber kompletter Unsinn. In Wahrheit war es Herbergers genialster Geistesblitz, den unerschütterlich optimistischen Helmut Rahn seinem grüblerischen Kapitän Fritz Walter als Zimmergenossen zuzugesellen.
Schon dass der „Chef“ den „Boss“, wie Rahn allenthalben genannt wurde, überhaupt mitnahm in die Schweiz, darf als psychotherapeutische Glanzleistung betrachtet werden. Schließlich musste Herberger mit der Nominierung des trinkfreudigen und lebenslustigen Stürmers aus Essen einen gewaltigen Sprung über seinen Schatten vollführen. Nur kurz zuvor hatte der disziplinversessene Bundestrainer, seit 1936 für die Geschicke der Nationalmannschaft zuständig, einen Konkurrenten Rahns um die Rechtsaußenposition aus dem Kader verbannt, weil der es gewagt hatte, beim gemeinsamen Mittagessen ein Bier zu bestellen. Die Entscheidung, ausgerechnet Helmut Rahn, der nie einen Hehl aus seiner Zuneigung zum Gerstensaft machte, in die Schweiz mitzunehmen, zeigt, dass Herberger klug genug war, eines noch mehr zu schätzen als Disziplin: Gewinnen.
Ohne Rahn wäre der viel gerühmte „Geist von Spiez“ ein sehr trauriger gewesen. Der fidele Stürmer jedoch möbelte nicht nur den zu Melancholie und Selbstzweifeln neigenden Fritz Walter nachhaltig auf, sondern hob die Stimmung der im Quartier am Thuner See kasernierten Mannschaft mit seinen nicht immer von gehobenem Niveau geprägten, aber befreienden Späßen. Mal ließ er einen Schwarm dicker Motten im Zimmer schlummerwilliger Kollegen frei, mal sorgte er mit seiner Marktschreier-Parodie für Erheiterung. Auf der Fahrt zum Finale empfahl er Fritz Walter, bei Gewinn der Seitenwahl dafür zu sorgen, dass man mit der Sonne im Rücken spiele. Es nieselte seit Stunden, alles lachte, die Verkrampfung, vor allem beim Kapitän, war gelöst. Dass Rahn dann auch noch die entscheidenden Tore schoss, war eine willkommene Zugabe, mit der Herberger so nicht gerechnet hatte.
Helmut Rahn musste sich seinen Platz im WM-Team nämlich erst mühsam erspielen. In der Vorrunde kam er nur beim ominösen Debakel gegen Ungarn zum Zug, beim folgenden wichtigen Spiel gegen die Türkei saß er wieder draußen. Dann merkte jedoch Herberger, dass dem Spiel seines Teams etwas fehlte, was nur der Boss liefern konnte: jene Unberechenbarkeit, die Rahn als „Meister der positiven Improvisation“ (Herberger) nicht nur privat, sondern auch auf dem Platz an den Tag legte. Mit einem Tor gegen Jugoslawien führte sich der schussgewaltige Außen ein, beim 6:1 im Halbfinale gegen Österreich hielt er sich vornehm zurück, im Finale war er dann an allen drei Treffern beteiligt. Seine scharfe Eingabe führte zum ersten Treffer durch Morlock, das 2:2 schoss er mit fulminantem Rechtsschuss, aber es war der dritte Treffer, welcher ihm Freibier bis ans Ende seiner Tage und wohl auch künftig im Fußballerhimmel garantierte.
Selbst schilderte Rahn später unzählige Male an Kneipentresen jene Szene, die trotz des dritten Tors von Wembley 1966 die berühmteste des deutschen Fußballs ist. „Ich nehme die Pille auf die Schippe, von links nach rechts, dann wieder nach links und halte drauf. Den Rest kennt ihr ja“, lautete in etwa seine Standardformulierung. Im kollektiven Gedächtnis verankert wurde die 84. Minute von Wankdorf aber durch das Wortcrescendo des Reporters Herbert Zimmermann: „Schäfer nach innen geflankt. Kopfball – abgewehrt. Aus dem Hinterhalt müsste Rahn schießen. Rahn schießt. Toooor! Tooor! Tooor! Tooor! Tor für Deutschland!“
Für den 24-Jährigen war es der frühe Höhepunkt einer wechselvollen Karriere, jener eine Moment, in dem alles zusammenpasste, was sonst meist auseinander lief. Vergleichbar vielleicht einem anderen großen Hedonisten des Fußballs, Diego Maradona, dem 1986 in Mexiko ein einziges Mal alles zu Gold geriet.
In den Jahren nach dem WM-Gewinn wurde Helmut Rahn 1955 zwar noch deutscher Meister mit Rot-Weiß Essen, bestritt jedoch kaum Länderspiele (insgesamt kam er auf 40), sonnte sich ein bisschen zu feuchfröhlich im Ruhm von Bern und musste wegen Trunkenheit am Steuer sogar zwei Wochen ins Gefängnis. Sepp Herberger schaffte es gerade rechtzeitig zur WM 1958, seinen Lieblingschaoten halbwegs auf den Pfad der Tugend zurückzuführen. Rahn schoss in Schweden sechs Tore, das Aus im Halbfinale gegen die Gastgeber konnte er auch nicht verhindern.
Beim 1. FC Köln wurde er Anfang der Sechziger gefeuert, nachdem er zu einem Freundschaftsmatch gar nicht erschienen und in der Nacht vor dem verloren Meisterschaftsendspiel gegen den HSV spurlos verschwunden war. Vormittags tauchte er dann mit einer Alkoholfahne auf. Ein übergewichtiger, aber geläuterter Rahn spielte dann noch eine erstaunlich gute Saison im ersten Bundesligajahr und wurde mit dem Meidericher SV Vizemeister. 1964 beendete er seine Karriere nach einer Achillessehnenoperation und widmete sich fortan dem Gebrauchtwagenhandel und der Pflege seiner eigenen Legende. Gestern ist Helmut Rahn im Alter von 73 Jahren nach langer Krankheit in Essen gestorben.